Belgien, Luxemburg und Niederlande: Die politische Neuordnung

Belgien, Luxemburg und Niederlande: Die politische Neuordnung
Belgien, Luxemburg und Niederlande: Die politische Neuordnung
 
Belgien wurde unmittelbar im Anschluss an das nördliche Frankreich im September 1944 durch alliierte Truppen befreit, war aber im Dezember 1944 und Januar 1945 im Zug der deutschen Ardennenoffensive noch einmal Kriegsgebiet. Die Exilregierung aus Katholiken, Sozialisten und Liberalen unter dem Vorsitz von Hubert Pierlot kehrte aus London zurück und übernahm die Kontrolle des Landes. Ein Vertreter der Résistance und zwei Kommunisten traten in die Regierung ein, sodann wurden die Résistancemilizen unter Mithilfe der britischen Befreier entwaffnet. Das rief in Teilen der Bevölkerung Unmut hervor und verschärfte die Spannungen zwischen Flamen und Wallonen. Die Wallonen, die die Mehrzahl der Widerstandskämpfer gestellt hatten, verdächtigten die Flamen vielfach, während des Kriegs mehr auf der Seite der Deutschen gestanden zu haben; und in der Tat hatte es im flämischen Volksteil mehr Kollaborateure gegeben als im wallonischen.
 
Die Auseinandersetzung wurde noch dadurch verstärkt, dass König Leopold III. nach der Kapitulation vor der deutschen Wehrmacht 1940 Hitler aufgesucht hatte und den deutschfeindlichen Teilen der Bevölkerung seitdem als Kollaborateur galt. Sozialisten und Liberale, die schwerpunktmäßig im wallonischen Teil der Bevölkerung verankert waren, forderten daher seinen Rücktritt, während die meisten Flamen und mit ihnen die Katholische Volkspartei an ihm festhalten wollten. Der König, zuvor ein Garant des Ausgleichs zwischen den Volksteilen, wurde damit selbst zu einer Gefahr für die Einheit der Nation.
 
Im Februar 1945 trat Pierlot angesichts des verbreiteten Unmuts zurück, der Sozialist Achille van Acker bildete eine stärker nach links ausgerichtete Regierung der nationalen Einheit. Als der König im April 1945 seine Rückkehr aus deutscher Kriegsgefangenschaft ankündigte, schieden die Katholiken aus der Regierung aus. Die ersten Parlamentswahlen am 17. Februar 1946 vertieften die Spaltung noch mehr: Sozialisten, Kommunisten und Liberale behielten zwar zusammen die Mehrheit und stellten auch weiterhin die Regierung; die Katholiken, die sich unterdessen zur Christlichen Volkspartei zusammengefunden hatten, bildeten jedoch mit 92 Mandaten die weitaus stärkste Fraktion. 300000 Belgiern, die unter Kollaborationsverdacht standen, war zudem das Wahlrecht verweigert worden.
 
Anfang 1947 fanden sich die Christlichen Demokraten bereit, ihre Forderung nach Rückkehr des Königs zurückzustellen, und als die kommunistischen Minister im März 1947 in einer Auseinandersetzung um die Kohlesubvention zurücktraten, boten sie sich als Koalitionspartner an. Die Sozialisten konnten daraufhin Kommunisten und Liberale in die Opposition verweisen. Die große Koalition unter Paul-Henri Spaak brachte soziale Reformen auf den Weg und führte das Land in das westliche Bündnis. Die Königsfrage wurde erst 1951 gelöst — durch einen Verzicht Leopolds zugunsten seines Sohnes Baudouin.
 
 
Das kleine Luxemburg erlebte ähnliche Spannungen zwischen den Résistants und der Exilregierung, die nach der Befreiung des Landes durch amerikanische Truppen Anfang September 1944 zurückkehrte. Das Kabinett unter Führung des konservativen Pierre Dupong nahm aber weder Vertreter des Widerstands noch Kommunisten in seine Reihen auf; es kündigte lediglich Ende Mai 1945 Neuwahlen für den 21. Oktober 1945 an. Aus diesen ging die Christlich-Soziale Volkspartei, wie die Konservativen ihre nun stärker reformistisch ausgerichtete Partei seit Ende 1944 nannten, als stärkste Kraft hervor; die Sozialisten verloren zugunsten der Kommunisten; die Liberalen schlossen sich der Widerstandsunion an und konnten damit ihre Position behaupten. Dupong bildete jetzt eine Allparteienregierung.
 
Im Februar 1947 entschlossen sich die Christlich-Soziale und die Demokratische Partei — Letztere war durch den Zusammenschluss von Résistants und Liberalen entstanden — zur Bildung einer Mitte-rechts-Koalition. Sozialisten und Kommunisten wurden in die Opposition verwiesen. Letztere verblieben dort für die Dauer des Kalten Kriegs. Den Sozialisten hingegen gelang im Juli 1951 die Rückkehr in die Regierungsverantwortung; sie lösten die Demokratische Partei als Juniorpartner der Christlich-Sozialen ab.
 
Die nationale Identität war durch den gewaltsamen Germanisierungsversuch der deutschen Besatzer wesentlich gestärkt worden, doch fiel es der kleinen Nation noch schwerer als anderen, über die Kollaboration und die Opfer deutscher Gewaltpolitik offen zu sprechen. Gegen 9500 Luxemburger (bei einer Bevölkerung von knapp 300000) wurde wegen des Verdachts auf Kollaboration ermittelt, knapp 2300 wurden verurteilt, acht hingerichtet.
 
 
In den Niederlanden erfolgte die Befreiung von der deutschen Besatzung erst im Mai 1945. Wie in Luxemburg kehrte die Vorkriegsregierung zurück, die 1940 mit Königin Wilhelmina ins Exil nach London gegangen war. Die Gruppierungen des Widerstands, die zum Teil weit reichende soziale und politische Reformen durchführen wollten, wurden über eine große Beratungskommission in das System der konstitutionellen Monarchie eingebun- den. Der bewaffnete Widerstand wurde dem alliierten Kommando unterstellt, Vertreter des Widerstands traten in die Regierung ein. Am 27. Juni 1945 übernahm Willem Schermerhorn das Amt des Ministerpräsidenten, ein Verfechter der Bildung einer progressiven Volkspartei. Das Schwergewicht der Regierung lag aber weiterhin bei den Vertretern der herkömmlichen Parteien und der Beamtenschaft.
 
Nachdem es in der letzten Phase des Kriegs zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Kollaborateuren und Widerstandskämpfern gekommen war, war das Bedürfnis nach Abrechnung mit den »Landesverrätern« groß. Eine Lynchaktion großen Ausmaßes konnte zwar vermieden werden, doch wurden über 100000 kompromittierte Niederländer in Lagern interniert, in denen sie unter häufig elenden Umständen auf ihren Prozess warten mussten. Nach heftigen Auseinandersetzungen über die Notwendigkeit einer gerichtlichen Aufarbeitung begann im September 1945 ein Programm der Resozialisierung. Führende Mitglieder der Nationalsozialistischen Bewegung wurden hingerichtet, 15000 »leichtere Fälle« von sonstigen Tribunalen abgeurteilt. Bei der Säuberung der Verwaltung wurde ein Mittelweg beschritten, der vielen Anhängern des Widerstands nicht weit genug ging.
 
Schermerhorns Versuch, eine große Volkspartei jenseits der traditionellen ideologischen Grenzen zu etablieren, hatte nur begrenzten Erfolg. Seine Partei der Arbeit kam in den ersten Parlamentswahlen nach dem Krieg im Mai 1946 nicht über das Stimmenpotenzial der Sozialdemokraten hinaus. Das alte Parteiensystem blieb daher weitgehend intakt. Doch gelang es, eine Zusammenarbeit zwischen Arbeitspartei und Katholischer Volkspartei, der ehemaligen Römisch-Katholischen Staatspartei, zu installieren, die den Wiederaufbau trug und der Entwicklung des modernen Sozialstaats den Weg bereitete. Ministerpräsident wurde mit Louis Beel ein führender Vertreter des linken Flügels der Volkspartei.
 
Weil die Regierung Beel nicht über die nötige Zweidrittelmehrheit verfügte, um ihre Vorstellungen von einem »niederländischen Commonwealth« mit Indonesien in der Verfassung zu verankern, wurden im April 1948 Neuwahlen angesetzt. Sie brachten der Partei der Arbeit jedoch weiter Stimmeneinbußen, sodass in der Folge ein Kabinett auf breiterer Grundlage gebildet werden musste. Neuer Ministerpräsident wurde Willem Drees von der Arbeitspartei, als Außenminister kam Dirk Stikker von den Liberalen ins Amt. Das stärker liberal akzentuierte Kabinett spielte eine maßgebliche Rolle bei der Schaffung der atlantischen Allianz.
 
Prof. Dr. Wilfried Loth
 
 
Srant, Paul: Die politischen Säuberungen in Westeuropa am Ende des Zweiten Weltkrieges. Aus dem Französischen. Oldenburg u. a. 1966.

Universal-Lexikon. 2012.

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